Gemeinsame Resolution der AWO Sonderkonferenz
Zentrales Versprechen der sozialen Marktwirtschaft ist die Teilhabe aller am
gesellschaftlichen Wohlstand. Kinder und Jugendliche müssen unabhängig von
ihrer sozialen Herkunft die Möglichkeit haben, ihre Potenziale zu entfalten und ein
selbstbestimmtes Leben zu führen. Trotz aller sozialstaatlichen Bemühungen
bestehen jedoch noch immer massive Ungleichheiten. Deutschland ist im
europäischen Vergleich eines der Länder mit der geringsten sozialen
Durchlässigkeit.
Die Arbeiterwohlfahrt fordert die Bundesregierung und den Bundestag auf,
diesen Trend endlich umzukehren. Eine echte Kindergrundsicherung, eine
Investitionsoffensive für die Bildung und eine auskömmliche Finanzierung
der Kinder- und Jugendhilfe sind unverzichtbar, damit die Lebenschancen
der Kinder und Jugendlichen nicht vom Konto- und Bildungsstand der Eltern
abhängen.
Bereits 2022 hat der Corona-Expert*innenrat die Bundesregierung dazu
aufgerufen, das Kindeswohl in der Pandemiebekämpfung zu priorisieren und ein
umfassendes Konzept zur Abmilderung von Sekundärfolgen der Pandemie für
Kinder und Jugendliche als zentrales, gesellschaftspolitisches Vorhaben
anzugehen. Die Corona-Krise traf all jene am stärksten, die in Armut aufwachsen.
Ausgelöst von dem schrecklichen Angriffskrieg auf die Ukraine lässt die derzeitige
Energie- und Wirtschaftskrise vor allem diejenigen weiter um ihre Existenz
bangen, die schon vorher unter enormem materiellem Druck standen.
Doch dies nicht allein: Junge Menschen werden mit den Folgen der politischen
Verantwortungslosigkeit gegenüber den Rechten künftiger Generationen und einer
seit Jahrzehnten falschen Umwelt- und Klimapolitik leben müssen. Gleichzeitig
wird in Politik und Gesellschaft eine Debatte über einen Pflichtdienst geführt.
Diese Zumutung verkennt, dass hunderttausende junge Menschen sich bereits auf
unterschiedliche Weise einbringen und engagieren – im Jugendwerk der AWO, in
den Freiwilligendiensten, in weiteren zivilgesellschaftlichen Jugendverbänden und
-bewegungen, wie der Klimabewegung.
Als Wohlfahrtsverband und Träger von mehr als 18.000 Einrichtungen, Diensten
und Angeboten sowie als Kinder- und Jugendverband der AWO stehen wir jeden
Tag im Kontakt mit Millionen von Kindern, Jugendlichen und deren Familien. Wir
beobachten genau, welche Folgen Armut und Perspektivlosigkeit haben:
Armutsbetroffene Kinder und Jugendliche haben schlechtere Chancen, einen
guten Schulabschluss zu machen und sie leiden öfter unter gesundheitlichen
Einschränkungen – auch, weil das Wohnumfeld, in dem sie aufwachsen, häufig an
stark befahrenen Straßen liegt und wenig Raum für das Spielen und Toben im
Freien bietet. Arme Kinder und Jugendliche haben kleinere Freundeskreise als
nicht arme Kinder, sind seltener im Sportverein und verfügen über ein geringeres
Selbstwertgefühl, da ihnen in unserer Gesellschaft weniger zugetraut wird (wie die
Langzeitstudie von AWO und ISS gezeigt hat). All das wissen wir seit Jahrzenten!
Kein Sparen auf Kosten junger Menschen!
In den Verhandlungen über den Bundeshaushalt in den vergangenen Wochen
konnten wir erleben, wie Kinder und Jugendliche einmal mehr aus dem Blickfeld
der Bundespolitik geraten sind. Viele der im Koalitionsvertrag angekündigten
Maßnahmen wie die Kindergrundsicherung, das Programm „Startchancen“ oder
der „Digitalpakt 2.0“ sind finanziell nicht gesichert.
Wir erleben eine Bundesregierung, die im Eiltempo ein Sondervermögen in Höhe
von 100 Milliarden für die Bundeswehr freigeben konnte – unter der Zusage ans
Parlament, dass die im Koalitionsvertrag verhandelten Maßnahmen trotzdem
umgesetzt werden können. Allerdings nimmt sich diese Bundesregierung mit
ihrem selbst auferlegten Spardiktat nun den finanziellen Handlungsspielraum – auf
Kosten von Millionen Kindern und Jugendlichen: Sie hält einerseits an der
Schuldenbremse fest und besitzt andererseits nicht den Mumm, endlich jene
stärker in die finanzielle Verantwortung zu nehmen, die mehr zur Finanzierung
unseres Gemeinwesens beitragen müssen und dazu auch in der Lage sind.
Die Einkommensungleichheit hat seit Mitte der 1990er Jahre deutlich
zugenommen, gleichzeitig fällt der höchste Einkommenssteuersatz heute geringer
aus als damals. Kinder reicher Haushalte werden allein über die Kinderfreibeträge
in der Einkommensteuer zusätzlich zum Kindergeld derzeit um bis zu rund 100
Euro im Monat gefördert. Das entspräche einer Summe von bis zu 21.600 Euro
bis zum 18. Lebensjahr. Beim Vermögen ist die Schere noch größer, eine
Vermögenssteuer wird aber seit über 25 Jahren nicht mehr erhoben.
Das Argument vermeintlich leerer Kassen lassen wir nicht gelten. Wir brauchen
keine Umverteilung von unten nach oben, die Reiche entlastet und Arme belastet,
sondern endlich eine Zeitenwende in der Fiskalpolitik!
Für eine gerechte Kinder-, Jugend- und Familienpolitik!
Auf der Basis unserer Grundwerte Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit,
Solidarität und Toleranz haben wir als AWO in unserem Grundsatzprogramm
den Leitsatz formuliert: „Wir finden uns mit Ungleichheit und Ungerechtigkeit
nicht ab. Der demokratische Sozialstaat ist verpflichtet, Ausgleich zwischen
Arm und Reich herzustellen.“ Als Familienfachverband der AWO teilt das
Zukunftsforum für Familie diese Werte, wie auch das Jugendwerk der AWO. Wir
arbeiten jeden Tag entschieden am gesellschaftlichen Versprechen des sozialen
Aufstiegs. Dafür brauchen wir eine auskömmliche Finanzierung der Bildung, der
sozialen Daseinsvorsorge und der Kinder, Jugendlichen und Familien selbst. Und
wir brauchen eine bedarfsgerechte Verteilung der Mittel. Hierzu heißt es im
Grundsatzprogramm des Jugendwerks der AWO: „Die Bedürfnisse jedes
einzelnen Menschen sind individuell. Alle Menschen sind zwar gleichwertig, aber
eben nicht gleich. Anzustreben ist demnach keine gleichmäßige, sondern eine an
den tatsächlichen subjektiven Bedürfnissen orientierte Güterverteilung. Nur so
sichern wir alle gemeinsam den sozialen Frieden und unsere Demokratie.“
Wir fordern die Bundesregierung und den Bundestag auf, den Bedarf von
Kindern und Jugendlichen endlich ernst zu nehmen und finanziell
umzusteuern.
Wir erwarten:
– Die auskömmliche und langfristige Finanzierung einer echten
Kindergrundsicherung!
Eine Kindergrundsicherung, die ihren Namen verdient, strebt eine sozial
gerechte Familienförderung an, die armutsbetroffene Kinder- und Jugendliche
mehr unterstützt als Kinder- und Jugendliche aus wohlhabenden Familien.
Darüber hinaus muss eine neue Leistung neben einer armutsfesten Höhe auf
Grundlage der Neuberechnung des kindlichen Existenzminimums eine
weitgehend automatische Auszahlung beinhalten, die alle
Anspruchsberechtigten erreicht. Diese Leistung muss mehr ermöglichen als
die schiere Existenz – sie muss Teilhabe sichern und gemeinsam mit Kindern,
Jugendlichen und ihren Verbänden definiert werden.
– Endlich eine große Bildungsinitiative, die Kinder und Jugendliche
wirklich fördert!
Neben der direkten finanziellen Förderung von Kindern, Jugendlichen und
Familien ist es Bildung, die ein Leben in Würde, sozialer Teilhabe und
Demokratie möglich macht. Dazu müssen wir das riesige Defizit durch
mangelnde Bildungsfinanzierung, das in den vergangenen Jahrzehnten in
unserem Land aufgebaut wurde, dringend beseitigen. Schulen müssen saniert
und technisch modernisiert werden, die Kindertagesbetreuung qualitativ
gestärkt, der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule
endlich umgesetzt und mit guter Qualität untermauert werden.
Niedrigschwellige Angebote wie Familienbildung, Offene Kinder- und
Jugendarbeit, Beratung sowie Jugendverbandsarbeit sind zudem finanziell
abzusichern und auszubauen. Für all das müssen Länder und Kommunen in
die finanzielle Lage gebracht werden, um in gemeinsamer Verantwortung die
Angebote der Bildung und der Kinder- und Jugendhilfe zu stärken.
– Umfassende und verbindliche Maßnahmen, um Kindern, Jugendlichen
und ihren Familien nach den Pandemie-Jahren die Unterstützung
zukommen zu lassen, die sie dringend brauchen!
Insbesondere die Schließung von Einrichtungen für Kinder und Jugendliche in
der Corona-Krise hat dazu geführt, dass ihre Lebenszufriedenheit stark
abgenommen hat und ihre psychische und physische Gesundheit enorm
eingeschränkt wurde. Um diesen Folgen entgegenzutreten, braucht es
dringend den Ausbau der Schulsozialarbeit, wirksame Strategien gegen
Einsamkeit, die Sicherstellung und den Ausbau psycho-sozialer Beratungsund Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche sowie die Stärkung
kostenloser Freizeitangebote. Hierfür sind ausreichend finanzielle Ressourcen
zur Verfügung zu stellen.
– Mehr Investitionen in Teilhabe und eine inklusive Kinder- und
Jugendhilfe!
Das Kinder- und Jugendhilferecht ist eine Errungenschaft, die für die Bedarfe
von Kindern und Jugendlichen Partei ergreift. Wir fordern nun die Entwicklung
eines wirklich inklusiven SGB VIII. Bundesweit müssen im Sinne gleichwertiger
Lebensverhältnisse tragfähige Strukturen geschaffen werden. Diese gibt es
aber nicht zum Nulltarif. Schon jetzt reicht die Finanzierung nicht aus. Die dafür
notwendigen Mittel sind von Bund, Ländern und Kommunen sicherzustellen.
– Eine verlässliche und auskömmliche Finanzierung der
Jugendverbandsarbeit durch den Kinder- und Jugendplan des Bundes!
Um die jugendverbandliche Bundesinfrastruktur langfristig erhalten und
weiterentwickeln zu können, müssen die Mittel im Kinder- und Jugendplan des
Bundes für die Jugendverbandsarbeit dauerhaft ansteigen. Es ist bereits jetzt
kaum leistbar, die durch Krisen ausgelösten zusätzlichen Bedarfe und
Probleme junger Menschen angemessen zu begleiten. Zusätzlich droht der
Abbau langjährig bestehender Infrastruktur, wenn kein Inflationsausgleich
gelingt. Pädagogisch hochwertige Angebote und Möglichkeiten für
Selbstwirksamkeitserfahrungen werden wegfallen. Dies wird sich nicht nur auf
der Ebene der Bundesverbände zeigen, sondern auch vor Ort. Die Förderung
der Jugendverbandsarbeit im Bund, in den Ländern und Kommunen bedarf
einer kontinuierlichen Dynamisierung. Nur so wird es auch zukünftig möglich
sein, dass junge Menschen im Rahmen der Selbstorganisation von
Jugendverbänden und als Interessenvertretung für junge Menschen eine
starke Stimme haben.
– Die Stärkung und den Ausbau der Migrationssozialarbeit!
Die Bundesprogramme Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer (MBE)
und die Jugendmigrationsdienste (JMD) sind wichtige Säulen der
Migrationssozialarbeit und bieten professionelle Beratung und Begleitung für
erwachsene und junge Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Eine
angemessene und stabile Finanzierung sowie eine Verstetigung der Mittel sind
dringend notwendig.
– Die Stärkung der Präventionsarbeit zur Verhinderung und Aufdeckung
von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche!
Um Kinder und Jugendliche, die von häuslicher Gewalt selbst oder mitbetroffen
sind, zu unterstützen, sind erreichbare und auskömmlich finanzierte Beratungs- und Hilfsangebote notwendig.
– Die Intensivierung aller Bemühungen, um gut qualifizierte Fachkräfte für
die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien zu gewinnen, zu
halten und auszubilden!
Dazu gehören die Abschaffung von Ausbildungsgebühren, die Verbesserung
der Bezahlung, auch durch einen eigenen Tarifvertrag für die sozialen Berufe,
die schnellere Anerkennung nicht-deutscher Berufsabschlüsse, die bessere
und vergütete Möglichkeit der (Weiter-)Qualifizierung und die Stärkung der
Qualität, sodass unsere Fachkräfte ihre Professionalität und Haltung auch
wirklich in der alltäglichen Arbeit umsetzen können. All dies können wir als
Träger nicht alleine stemmen, sondern es muss durch die öffentliche Hand
refinanziert werden.
– Den Ausbau und die finanzielle Stärkung der Freiwilligendienste sowie
mehr Anerkennung für freiwilliges Engagement!
Die angekündigten Kürzungen bei der Finanzierung des Freiwilligen Sozialen
Jahres und des Bundesfreiwilligendienstes sind zurückzunehmen. Stattdessen
müssen die Freiwilligendienste stärker wertgeschätzt, attraktiver gemacht und
ihre Potentiale für alle interessierten jungen Menschen erschlossen werden.
Dies bedeutet, die Finanzierung der Freiwilligendienste erheblich auszubauen.
Wir sehen deutlich: Dort, wo sich der Staat aus seiner Verantwortung zurückzieht,
leiden vor allem die Ärmsten unter den sozialen Verwerfungen. Die Ungleichheit
nimmt zu und mit ihr gesellschaftliche Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit. Am
Ende steht neben dem Kindeswohl auch das Vertrauen der Menschen in die
soziale Demokratie auf dem Spiel.
Das darf nicht sein. Wir fordern ein Umsteuern – jetzt!